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AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG






































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Prof. Dr. Wilhelm Gauger: Rede zur Eröffnung der Ausstellung

Die großzügigen Räumlichkeiten dieser Galerie ermöglichen es, einen beeindruckenden Reichtum an Kunstwerken zu zeigen. Deren Verteilung erlaubt es uns, zwanglos von einem zum anderen zu gehen, ohne daß die Arbeiten aufgereiht wirken. Jede kommt zugleich für sich zur Geltung und interagiert mit allen anderen.

Ein Gegensatz fällt uns allen auf - figurale Plastiken von Emerita Pansowová stehen den ungegenständlichen Bildern von Anna Holldorf gegenüber. Vielleicht ist das auch eher ein Kontrast, ja eine gegenseitige Ergänzung als ein radikaler Schnitt. Seit den ältesten Zeiten sind in der Kunst beide Seiten vertreten, und auch heute kenne ich eine Reihe von Künstlern, die hier weniger einen programmatisch vertretenen Gegensatz als zwei Möglichkeiten sehen.

Immerhin - man äußert sich über beide Möglichkeiten dann doch unter verschiedenen Gesichtspunkten, ja Sprachen. Ist etwa von Themen oder Motiven die Rede, so geht man in beiden Fällen manchmal unterschiedlich vor.

Beginnen wir mit Emerita Pansowová. Die Themen sind zumeist einzelne Menschen, vor allem Aktfiguren, dazu Menschengruppen, ein Porträtkopf, dann Tiere, auch Tiere und Menschen - beim Reiten - ‚ also klassische Gegenstände skulptureller Kunst. Die Gestalten (oder soll ich lieber sagen "Gestaltungen"?) sind ein unverlierbarer Besitz der Menschheit, weil sie Grundbegegnungen, Grundhaltungen, Grunderlebnisse in immer anderer Weise neu entdecken, wobei jeder Betrachter nicht nur allen gemeinsam Zugängliches sieht, sondern es auch mit Eigenem verbindet - also selbst mit zum Schöpfer des Kunstwerks wird.

Ich möchte betonen, daß auch hier das Wie, der Stil alles ist. Und dieses Wie umfaßt sowohl Seelisches als auch das Material und dessen Behandlung. Es ist nicht damit getan, die Themen zu katalogisieren.

Achten wir auf die seelischen Momente. Eine stehende weibliche Figur schaut wach und aufmerksam, den Blick leicht nach der linken Seite gewandt, der rechte Arm hängt reglos hinunter, der linke ist hinter dem Rücken geborgen. Das Sehen, dazu die selbstbewußte Haltung, Entspannung und trotzdem eine angedeutete Zurückhaltung sprechen sich darin aus - gerade die Seite des wachen Blicks und die einer gewissen, einstweiligen Vorsicht miteinander werden uns bewußt.

So sehen wir auch die Aktfigur eines Jungen Mannes, dessen Arme trotz der aufrechten Haltung wie zum Schutz vor der Brust gekreuzt sind - als scheue er etwas, mag es von außen kommen oder aus ihm selbst; da verbinden sich Sicherheit und Schutzbedürfnis.

Diese seelischen Haltungen aber gehen immer wieder unmittelbar in Stilmerkmale über. Eine hockende Gestalt erinnert in ihrer statischen Geschlossenheit und Linearität an die aus dem Kubus entwickelten altägyptischen Hockerfiguren. Und gerade da, wo das Stehen gegenüber sitzenden oder liegenden Haltungen zurücktritt, wird das Archetypische um so stärker sichtbar. Zwei nebeneinander versetzt gereihte, bekleidete Sitzfiguren bekommen etwas von der Wirkung archaischer Götterbilder; doch auch da möchte ich auf etwas Mehrdeutiges hinweisen: diese Gestalten erwarten etwas, aber was und von wem? Erwarten sie unsere Verehrung, ein Bekenntnis von uns, oder erwarten sie etwas von einer ganz anderen Seite her, die uns verschlossen ist? Erwarten sie gar auch ein Urteil über sich selbst? Sprechen sie ein Urteil aus, oder erwarten sie eins über sich? Man könnte noch einen Schritt weitergehen - in einem Gedicht von Rilke liegt ein gewaschener und für die Beisetzung bereiteter Leichnam nach diesem Vorgang allein im verlassenen Raum "und gab Gesetze" - ; also so, daß von dem Erwarten eines Urteils selbst schon eine unantastbare Hoheit ausgeht.

Und all das setzt sich fort in weiteren gemeinsamen Zügen. Frau Pansowová beschäftigt sich immer wieder - dem Beispiel Rodins folgend - mit der Bewegung des Schreitens in immer neuen Variationen. Auch das ist eine menschliche Ur-Gegebenheit, auch noch im Zeitalter des Autos und des Roller-Skating. Immer betonen die Plastiken darin aber auch das Element der Schwere. Achten wir auf die Gestaltung der Füße. Immer sind sie selbst groß und schwer, dem Boden verhaftet, und nur die schwebende, schwingende Gestalt einer Tänzerin löst sich von ihm.

So können wir im allgemeinen von betonter Erdverbundenheit der Plastiken sprechen, die sich auch in den vorwiegend dunklen, verhaltenen Farben und Materialien zeigt. Trotzdem besagt auch das nicht alles. Die Oberfläche, oder, da es sich zumeist um menschliche Akte handelt, die Haut, wird stets so behandelt, daß fast immer eine klassizistische Glätte vermieden wird, sei es nun beim Stein oder der Bronze. Diese Akte biedern sich nicht an; aber die eher dunklen Farben und die Behandlung des Materials lassen es selbst zum Mysterium werden, das untrennbar mit der seelischen Natur der Personen verschmilzt. Die Behandlung des Materials enthüllt an ihm etwas, und was sie an ihm enthüllt, enthüllt zugleich etwas an den Figuren. Aber wahrscheinlich ist "enthüllt" auch nicht der richtige Ausdruck; denn enthüllt wird nicht etwas Verborgenes, das nun eindeutig, denotativ diagnostiziert werden kann, sondern wir werden nur aufmerksam darauf, daß hier überhaupt etwas verborgen ist, das zu immer neuen Fragen und neuer Auseinandersetzung führen soll.

Soeben las ich bei Heinz von Foerster, man habe schon bei den voraristotelischen, ja vorsokratischen griechischen Philosophen gesehen, daß der menschliche Blick "ja keineswegs eine passive, sondern eine höchst aktive Affaire war, bei der das Auge einen die zu sehenden Gegenstände berührenden Sehstrahl ausschickt," etwas, das später lange geleugnet und durch die Theorie eines rein passiven Blicks ersetzt wurde, bei dem nichts weiter als ein Lichtstrahl das Auge trifft. Heute allerdings gewinnt die Auffassung vom Sehen als einem aktiven Prozeß erneut an Boden, und von Foerster betont, Menschenkenner, Dichter, Schriftsteller und Poeten hätten seit eh‘ und je den Blick als "entscheidende kontaktschaffende Gestik gesehen."¹

Diese Stelle kam mir geradezu recht, als ich mir Gedanken über die Werke von Anna Holldorf machte. Aber auch was Emerita Pansowová angeht, so lohnt es sich, einmal auf die Blicke und Blickrichtungen ihrer menschlichen Figuren einen Blick von unserer Seite aus zu wenden. Da ist der verhaltene, sinnende Blick einer Frau, die eine Brust mit der Hand bedeckt, der erwähnte seitliche Blick einer Stehenden, der skeptische Blick des jungen Mannes, der die Arme vor der Brust kreuzt - und unwillkürlich stellen wir auch als Betrachter dieser Blicke uns das vor, was diese Menschen sehen, im Sehen geradezu erschaffen.

Nun aber zu Anna Holldorf, deren Bilder mich zu einem anderen sprachlichen Duktus, ja zu den Bedingungen und Anfängen des Sprechens überhaupt lenken.

Soll ich über die Arbeiten sprechen? Oder soll ich mich zu ihnen äußern? Oder soll ich etwas von ihnen sagen? Es gibt da eine Verlegenheit. Das "über" scheidet aus, weil es mir unmöglich ist, "über" sie zu sprechen wie über ein Problem der Grammatik oder der Wärmedämmung, bei dem ich über ihm oder ihm gegenüberstehe. Mit einem vermittelnden "zu" ist es auch nicht getan; da würde ich dozieren wie ein Veterinär, der nicht ohne Stolz ein prachtvolles Pferd vorführt und sich über dessen Hufe, Zähne oder Fell äußert.

"Von" ist schon besser, denn hier wird - wie beim Blick - eine Richtung umgekehrt, fast so, als ob ich vom Werk aus, von ihm aus spreche. Auch bei Emerita Pansowová habe ich mich darum bemüht, aber die Gegenständlichkeit verlangte eine "sachlichere" Diktion.

Ich möchte meine Verlegenheit noch von einer anderen Seite her erläutern: Geläufige Vokabeln wie Vordergrund und Hintergrund, Tönung, Kontrast, Graphisches und Diffuses klängen in dem Zusammenhang zu grob und schlagworthaft. In Wahrheit übten die Bilder auf mich vom ersten Moment an einen regelrechten Bann aus. Aber das könnte wieder klingen, als ginge es um etwas wie Macht oder Überwältigung. Und ähnlich schwierig verhält es sich mit dem Symbolismus. Anna Holldorf, die sich in Philosophie und Literatur ausgezeichnet auskennt, findet trotzdem die Symbole nicht einfach vor und verkündet sie dann im Bild, sondern entdeckt und entwickelt sie ganz neu, erschafft sie mit einem aktiven Blick geradezu und ist damit am Beginn der Dinge. Aber soll man "Beginn" hier zeitlich oder metaphorisch verstehen? Man müßte geradezu neue Wörter erfinden. Es ist so, als wenn man ein Rechteck, eine umrahmende Kontur zum ersten Male sähe. Deshalb muß man alles, was da noch zu sagen ist, mit Modifikationen verstehen, die wie ein Vorbehalt klingen, aber gerade dadurch ein Mehr zur Geltung bringen. Man muß umschreiben, was man direkt sagen könnte, weil das Direkte inhaltlos klänge. "Da ist ein Viereck" - das sieht man ohnehin. Und so verlangt das Elementare, als Geschichte erzählt zu werden, und zwar die Geschichte, die jedes der Bilder erzählt, ja, die es ist, und zugleich die Geschichte des Interpreten und seiner Verlegenheit zu erzählen. In diesem Umweg besteht ein Vorbehalt dem Sprechen gegenüber, der trotzdem ein Mehr anklingen läßt.

So fallen uns rechteckige Formen auf, die sich locker parallel zum Bildrand verhalten; und "verhalten" ist hier das einzige, nicht einmal metaphorische Wort, das uns zur Verfügung steht. Immer wieder umrahmen rechteckige Formen andere, zumeist ebenfalls rechteckige - und ganz bewußt habe ich Verben gewählt statt Substantive, die ein Geschehen zu "verfügbar" machten. In die Rechtecke Eingeschlossenes aber verharrt, schwebt, wartet, teilt sich, stemmt sich an, hält sich rein, vertieft sich, tastet. All das sind Verben.

Überall dominiert die Farbe Grün in ganz verschiedenen Tönungen und Intensitäten. Der Symbolik der Farbe Grün ist sich Frau Holldorf sehr bewußt; Wachsen und Entwicklung sind damit konnotiert, und wir wissen, daß das englische Wort "green" mit "to grow" verwandt ist. Trotzdem aber verbindet sich hier mit der Farbe keine festgelegte Bedeutung wie im Mittelalter. Und ähnlich ging es Frau Holldorf in einer früheren Phase mit der Farbe Blau und kristallinen Strukturen. Und ähnlich verhält es sich auch mit der wiederholten Kreuzform auf den ausgestellten Bildern. Es geht um die Gestalt des Kreuzes, nicht die vorzugsweise christlichen Konnotationen, obwohl auch sie nicht ausgeschlossen sind. Denkt man sich eine Viereck, ein Quadrat von den Ecken her zur Mitte hin eingedrückt, bis eine regelmäßige Form wie das Kreuz der Schweizer Fahne entsteht, dann wird aus dem, was etwas einschloß, eine Form, die sich in zwei senkrecht aufeinander stehende Richtungen teilt. Aus dem Block entsteht so geradezu ein Konflikt, aber das Gegensätzliche trifft sich in einem Punkt in der Mitte. So entsteht eine richtige Dialektik von Viereck und Kreuz, von Geschlossenem und Gerichtetem. Und so ergibt sich der Symbolismus aus dem Erlebnis der Gestalt.

Eine solche Erforschung, die gleichzeitig Entdeckung und Schöpfung ist und einer "objektiven", äußeren Erscheinung gilt, ist aber zugleich eine Selbstentdeckung und Selbsterforschung, also die eines Inneren, aber nun nicht, wie man zu glauben geneigt sein könnte, mit katalogisierbaren Bezügen zur Biographie, zum Charakter, zum Denken, zu Problemen und Entwürfen. Denn das Eigene, ja Private, schließt hier auch das Allgemeine, alle Betreffende ein, unsere eigenen Momente von Öffnen und Verschließen, von Drängen und Verharren, ja überdies noch in Gesellschaft, Leben und Natur. Es geht über das Individuelle hinaus.

Innen und Außen berühren sich, ja durchdringen einander, sind ununterscheidbar; der Mensch selbst ist Chiffre des Äußeren, das Äußere ist Chiffre des Inneren. Das Wort "Symbol" stammt vom griechischen "symballein", was "zusammenwerfen" heißt. Da aber ein Symbol, wie C. G. Jung schreibt, "bewußtseinstranszendent" ist, sich also nicht ganz mit der Welt und der Sprache rationaler Logik verrechnen, identifizieren und interpretieren läßt, bietet es ein ganzes Spektrum an Bedeutungen. Dieses Übermaß aber ist zugleich ein Sich-Entziehen, so, wie bei Frau Pansowová der Verzicht auf eindeutige Diagnose des seelischen Zustandes der Figuren zugleich eine Fülle von Deutungsmöglichkeiten eröffnet. Und das zwingt uns, um zum Schluß wieder auf den Anfang zurückzukommen, auch zu einer Neuentdeckung des Sprechens.

Diesem Zwang verdankt sich meine Verlegenheit. Man sollte die Arbeiten in Ruhe anschauen und von allem Gewußten absehen; dann kommt man von selbst dazu, nur noch festzustellen, was man sieht - und schon sind die primitiven Worte geladen mit einer Überfülle an Bedeutung, weil man selbst alles neu sieht. Unser Blick stellt etwas fest - und das heißt nicht nur, daß er einen Sachverhalt notiert, sondern auch, daß er etwas erschafft.

Aber was zwingt uns denn? Es ist der Bann, der vom Allersensibelsten, Aufmerksamsten, Zartesten ausgeht.

Und schließt - um zum Schluß zu kommen - das nicht auch wieder einen Bogen zu den Plastiken von Emerita Pansowová? Was sehen denn diese Gestalten, deren Blick ich vorhin erwähnte? Vom menschlichen Auge geht etwas aus.


¹ Heinz von Foerster: "Das Gleichnis vom blinden Fleck. Über das Sehen im allgemeinen" in: Gerhard Johannes Lischka (Hg.): Der entfesselte Blick. Symposion. Workshop. Ausstellung. Bern: Benteli Verlag 1993, S. 15

Die Schreibweise folgt dem Original-Manuskript des Autors
© Wilhelm Gauger und Galerie am Wasserturm

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